Herbert auf dem Weg nach Mygnia -  von F. Elfers aka Heinrich


Herbert Kupfermann ist seit zwei Jahren im Vorruhestand. Seine Firma hat ihn im Alter von 57 Jahren mit einem Abfindungsköder in die Freiheit gelockt. Da seine Frau vor vier Jahren verstorben ist und er zu seiner Tochter keinen Kontakt mehr hat, ist er nun völlig „frei“.

Nun kann er endlich alles tun, wozu er im harten Arbeitsleben keine Zeit hatte. Als Auslieferungsfahrer für KFZ-Ersatzteile war er 5 – 6 Tage in der Woche von morgens 07:00 Uhr bis nachmittags oder gar abends auf Achse. Er hat viel erlebt. Nein, er hat alles erlebt, was ein Mensch nur erleben kann! Es gibt nichts, was man ihm berichten könnte, was für ihn neu wäre. Er hat ja schon als KFZ-Mechaniker, Schlosser, Bäcker, Elektriker und Filmvorführer gearbeitet, Binnenschiffe, Busse und LKWs durch ganz Europa gesteuert. Er kennt alle Tricks und Geheimnisse der Taxibranche, der Gastronomie und als Auslieferungsfahrer pharmazeutischer Artikel hat er sich ein enormes medizinisches Wissen angeeignet.  Dass er nicht Schauspieler geworden ist, war reiner Zufall, obwohl er glaubt, wie Robert Redford auszusehen. Eine Arbeitskollegin konnte das nicht nachvollziehen, und meinte, er sähe eher aus, wie Dieter Meier von Yello. Damit war sie sowohl musikalisch als auch kollegial abgeschrieben.

Herbert ist der Ansicht, sein Wirken und Schaffen sei komplexer als die Relativitätstheorie und er wisse mehr, als zehn studierte Professoren zusammen. Er könne nichts dazu, dass er nicht ganz groß rausgekommen sei. Er hätte immer sehr viel Pech mit Chefs und missgünstigen Kollegen gehabt.
Aber er ist ein Mensch, der immer nach vorne blickt. Wehmütige Gedanken an die Vergangenheit kennt er nicht. Vorbei ist vorbei. So schnell, wie er den Kontakt zu seiner Tochter abgebrochen hat, weil sie ihre Fehler selbst machen wollte, so fix verabschiedet Herbert sich auch von Arbeitsstellen und anderen Menschen, nur von seinen Gewohnheiten nicht.
Er sitzt auf seinem Sofa immer in der Mitte und der Fernseher läuft. Man hat Herbert noch nie anders angetroffen. Hat man unten geklingelt, steht seine Wohnungstür schon offen, wenn man endlich die vier Etagen erklommen hat. Egal wie schnell man oben ist, Herbert sitzt schon wieder auf seinem Sofa, wenn man die Wohnungstür hinter sich geschlossen hat und das Wohnzimmer betritt.
Der Fernseher bleibt immer an und Herbert schafft es, gleichzeitig das Geschehen auf der Mattscheibe zu beobachten und sich mit seinen Gästen zu unterhalten.
Niemand darf sich neben ihn auf das Sofa setzen, obwohl dort drei Personen Platz hätten. Kommen mehr als zwei Besucher und die beiden Couchsessel genügen nicht, muss man sich selbst Stühle aus der Küche holen. Man soll sich dort ja sowieso Getränke holen, dann ist das ein Weg.
Herbert möchte niemals Menschen neben sich haben und auf gar keinen Fall, dass  Menschen sich hinter ihm aufhalten.
Sein Wohnzimmer ist immer picobello aufgeräumt. Auf dem Tisch liegen fein säuberlich nebeneinander Fernbedienungen für TV, drei Videorekorder, Sat-Receiver, Stereoanlage, fernbedienbare Steckdosen, Lampen und andere Geräte.

Es gibt nichts, aber auch wirklich gar nichts, wozu Herbert nicht eine konkrete, gefestigte Meinung hat. Auch aktuelle Zeitungsberichte oder Fernsehsendungen können Herbert nicht dazu bringen, seine Vorstellungen von der Welt und den Menschen zu ändern.
Nur sein Freund Waldemar, den er über alles bewundert, der in seinen Augen mehr weiß, als jeder Professor, Diplomingenieur oder Nobelpreisträger, kann Herbert neue Tatsachen vermitteln oder Erkenntnisse verschaffen. Sollte eine Aussage von Waldemar einen Widerspruch zu Herberts bisheriger Meinung zu einem Thema verursachen, stellt das gar kein Problem dar. „Das wusste ich schon“, „das habe ich mir gleich gedacht“, sind dann seine Kommentare zu diesen Neuigkeiten und etwas anderes hätte er auch nie gesagt.
Waldemar, der jedes noch so komplizierte elektrische oder elektronische Gerät reparieren oder gar neu konstruieren kann, wenn er die Zeit dazu hat, ist der Schlüssel zu Herberts Meinungsbildung. Da Waldemar sich in der Regel nur für technische Dinge interessiert, wird Herberts Meinung über Menschen, Ärzte, Politik, Geschichte, Natur und Wetter selten angetastet. Seit Waldemar auch immer weniger Zeit hat und kaum telefonisch erreichbar ist, nimmt Herbert immer häufiger an, was Waldemar dazu gesagt hätte. Das Ergebnis ist dann auch Gesetz.

Nur ganz wenige Menschen verhalten sich so, wie Herbert es für richtig hält. Das sind seine Freunde, denen er vorbehaltlos die Treue hält, bis sie mal anders denken als er und ihm massiv widersprechen. Wenn er sie dann in der „Diskussion“ nicht „plattmachen“ kann, können sie ihm mal gestohlen bleiben. Mit denen will er dann nichts mehr zu tun haben.

Seine schlimmsten Feinde sind die Ärzte. Nicht nur, dass sie Schuld daran haben, dass seine Frau gestorben ist, schlagen sie ihm auch ständig Sachen vor, die medizinisch völlig daneben sind. Sie sollen einfach nur das tun und aufschreiben, was er ihnen sagt  und nichts anderes. Herbert weiß es selbst ja wohl am besten, welche Tabletten, Tropfen und Salben er benötigt, um die Auswirkungen von zu großem Zucker-, Cola- und Zigarettenkonsum einzugrenzen und was man bei Rücken-, Kopf-, Knie- und Magenschmerzen sowie Bewegungsmangel einnehmen oder einreiben muss. Man erfährt von ihm unaufgefordert die schreienden Ungerechtigkeiten der Praxis-, Rezept- und Krankenhausgebühren, die Schikane von Wartezeiten und Hinhaltetechnik.

Wie schafft es ein Mensch wie Herbert, der nur in der Mitte seines Sofas lebt, neue Menschen kennenzulernen, die ihn dann auch besuchen?

Ganz einfach. Er hat durch Amateurfunk und Internet so viele Kontakte, die seine fröhliche und selbstbewusste Art mögen. Wer nur Herberts Stimme per Funk hört, seine Witze und seine Kommentare zu technischen Themen im Internet liest, mag ihn meistens auf Anhieb! Er hat immer lockere Sprüche auf Lager und einen unglaublichen Vorrat an elektronischen Bauteilen, die er freizügig verschenkt. Man muss sie nur bei ihm abholen.

Er hat ein ganzes Zimmer mit riesigen Regalen, in denen fein säuberlich Ersatzteile und Bauteile aller Art einsortiert sind. Herbert schafft es, an einem Tag mehrere Fernsehgeräte, Computer und „Jubelelektronik“ aller Art zu zerlegen und Teile auszulöten. Man wirft keine defekten Geräte weg, man bringt sie Herbert. Seine Wohnung ist der größte elektronische Umschlags- und Wiederverwertungsplatz der Stadt.

Nun passiert das Unglaubliche, Unfassbare. Herbert liest im Internet von der Parallelwelt Mygnia, die durch ein versehentlich entstandenes Portal zu betreten ist. Statt spontan zu sagen, dass das alles Quatsch sei, dass es so etwas nicht geben könne, erinnert er sich, dass Waldemar mal gesagt hat, dass man das Universum krümmen muss, wenn man eine Zeitreise machen will. So könne man sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft reisen.
Wenn so etwas möglich ist, ist ein Portal in eine Parallelwelt ja wohl auch kein Ding, denkt Herbert. Er ruft Waldemar an. Leider ist Waldemar nicht zuhause und nur der AB springt an. „Waldemar, hier ist Herbert. Sag mal, ich habe im Internet von einem Portal gelesen. Gibt es so etwas tatsächlich? In CERN, das liegt wohl in der Schweiz. Du hast mir doch mal gesagt, das WWW wurde in der Schweiz erfunden. Nun haben die ein Portal nach Mygnia! Stimmt das? Ruf mich bitte an oder schreib mir eine SMS.“

Geduld ist nicht Herberts Ding. Er ruft schon mal die Frau an, die ihm täglich die Wohnung putzt, die Wäsche macht und auch sonst Hilfe im Haushalt und in der Küche leistet, ob sie heute nicht noch einmal vorbeikommen könne? Sie kann.
Er lässt sie eine Reisetasche packen. Sie fragt ihn, wo es denn hingehen soll. „Nach CERN“, ruft er euphorisch aus. „Von dort kann man nach Mygnia reisen.“ „Mygnia?“, fragt sie, „ist das eine griechische Insel?“ „Nein“, sagt Herbert. „Die Griechen sind doch pleite. Selbst wenn die noch Inseln haben, müssen sie die bestimmt nun an reiche Deutsche, Amerikaner und Araber verkaufen.“ Er lacht dabei fast gehässig. „Oder gleich an die Chinesen! Ich habe das schon immer gesagt, dass das alles nicht funktionieren kann. Am besten, man schafft den Euro wieder ab!“ Herbert will sowieso alles wieder abschaffen – die Sommerzeit, die Rechtschreibreform und sein Auto fährt immer noch mit PS und nicht mit KW.
Sein Handy meldet eine SMS. Waldemar hat geantwortet. „Hallo Herbert, sorry, ich habe gerade wenig Zeit. Ich kenne viele Internetportale. Mygnia ist wohl auch…“
An der Stelle bricht die SMS ab. „Aha“, vermutet Herbert, „Mygnia ist auch in der Schweiz, wollte er sagen, das habe ich mir ja gleich gedacht.“

Herbert gibt seiner Haushaltshilfe noch ein paar Anweisungen und 20 Euro. Nein, besser 30 Euro, er weiß nicht genau, wie lange er unterwegs sein wird.  Dann erhebt er sich von seinem Sofa. Tatsächlich! Die Haushaltshilfe staunt, wie groß Herbert ist. Sie hat ihn bisher noch nie stehend gesehen. Auf seinem Sofa hockt er immer so zusammengesunken, dass man ihn auseinandergefaltet gar nicht so lang vermutet. Er schnappt sich die Reisetasche und verschwindet ohne ein weiteres Wort aus seiner Wohnung. Die Wohnungstür lässt er offen stehen.
- 2 -
In einem Internet-Café in der Kaiserstraße in Frankfurt am Main ist am frühen Abend wenig Kundschaft. Herbert sitzt an einem PC und lässt Google nach Mygnia suchen. Noch vor ein paar Wochen hätte Google nur ein paar Fundstellen präsentiert.
Inzwischen gibt es unzählige Berichte über Lichterscheinungen, verschwundene Menschen, gesichtete Portale und Berichte von Mygniarückkehrern. Herbert wird von dem tief sitzenden Wunsch getrieben, endlich diese kaputte Welt zu verlassen, den ganzen Dumpfbacken den Rücken zu kehren und mit hoch entwickelten Lebewesen Kontakt aufzunehmen, die ihn verstehen und ihm alles besorgen, was er sich wünscht. Obwohl Herbert entschieden für alles offen ist, was die Reise in  seine neue Welt angeht, klingen manche Berichte doch immer noch so fantastisch, unglaublich und unfassbar, dass Herbert es nicht schafft, Ordnung in seine Gedanken und neuen Erkenntnisse zu bringen.

Er würde so gerne Waldemar fragen, der könnte ihm das alles so erklären, dass es ihm gelänge, die komplexen Ereignisse auf das Wesentliche zu reduzieren. Das würde ihm ermöglichen, ein konkretes Ziel zu wählen und seine ganze Geschicklichkeit einzusetzen, dorthin zu gelangen. Seine Reise hatte bis hier schon viel Zeit und Geld verschlungen. Durch Falschmeldungen der Boulevardpresse und Angeberei verpeilter Blogger war sein Kurs mächtig im Zickzack verlaufen, und durch menschliche Bedürfnisse hatte sich sein Budget auch dramatisch reduziert. Ereignisse, die er später in seinen Berichten nicht erwähnen würde, dachte er doch ein klein wenig verschämt. Er hatte der jungen „Dame“ in der Lolita-Bar wirklich geglaubt, dass er der attraktive, sportliche und männliche Typ sei, auf den sie unglaublich stehe. Abschiede haben im Leben oft einen hohen Preis, das hat sich wieder einmal bestätigt.
Und dieser völlig unnötige und von ihm unverschuldete Verkehrsunfall, den er mit einer Straßenbahn in Hannover hatte, beraubte ihn seines liebsten Transportmittels. Dieses Auto hatte ihm nun schon über 20 Jahre treue Dienste geleistet. Sein Golf war besser in Schuss gewesen, als der teuerste, neuste Luxuswagen, denn er hatte ihn persönlich gehegt und gepflegt. Er hätte niemals eine Werkstatt an seinen Herby gelassen. Diese Halsabschneider bauen eher Teile aus als ein und haben sowieso null Plan von seinem speziell getunten Motor. Ok, bei den letzten beiden TÜV-Terminen hatte er mal ein Auge zugedrückt und die kleine Werkstatt in der Düwelstrasse die Dekra-Abnahme machen lassen. Er musste sich aber wochenlang darüber ärgern, welche völlig unnötigen und kostspieligen Arbeiten angeblich dafür nötig waren. Und nun das! Nun ist Herby Totalschaden und wird wohl gerade auf einen Schrottplatz abgeschleppt. Leider weiß jedes Kind, dass man immer Schuld hat, wenn man von einer Straßenbahn gerammt wird. Selbst wenn eine Straßenbahn aus den Schienen hüpft und parkende Autos demoliert, hat immer der Autofahrer Schuld. Die Straßenbahngesellschaft hat immer die besten Anwälte, und einen Fritze Willig kann er sich nicht leisten, den Anwalt, der jeden aber auch wirklich jeden raushaut. Der hätte nicht nur nachgewiesen, dass Herbert von der Straßenbahn misshandelt wurde, sondern ihm auch noch Schmerzensgeld, eine Rente oder lebenslange Freifahrt im Nahverkehr verschafft.  Aber er hat auch keine Zeit, sich mit solchen Nebensächlichkeiten aufzuhalten.
Er verzichtet also auf die Klage, dass die Straßenbahn völlig unmotiviert angehalten und ihm den Weg versperrt hat.
Wenn Herbert nicht auf dem Weg nach Mygnia wäre, hätte er wohl Herby liebevoll in sämtliche Einzelteile zerlegt und in sein Ersatzteillager einsortiert. Aber irgendwie hat Herbert es im Gefühl, dass er in der neuen Welt kein altes Auto brauchen wird und keine Ersatzteile. Auch Elektronikteile soll man nach Mygnia nicht mitnehmen. Dort funktioniert alles biologisch, esoterisch, magisch oder wie auch immer, aber Elektronik ist dort nicht nur veraltet, sondern auch unerwünscht!

Er trauert seinen alten Schätzen nicht nach. Bestimmt erwartet ihn Reichtum und Wohlstand in Hülle und Fülle. Schließlich gehört er zu den Pionieren! Und dieses Mal würden die Pioniere nicht die gleichen Fehler machen wie im goldenen Westen oder anderen schlecht geplanten Eroberungen auf der Erde.

Er hat sich gemerkt, dass man auf Mygnia nicht Gold oder schmieriges Öl einsammeln muss, sondern Meline! Kleine, handliche Steine - manchmal mit einem Bändchen (wenn noch ein Wesen des Erdvolks dranhängt), aber sauber, voller Power und allseits begehrt. Vor allem sind Meline das wichtigste Werkzeug überhaupt. Nur mit ihnen kann man jederzeit Portale erzeugen und reisen, liest man immer wieder.

Herbert versucht, sich zu konzentrieren. Es darf ihm nicht noch einmal passieren, dass er durch Meldungen im Internet zu angeblichen Portalen in Westfalen gelockt wird, nachts mit einem „geliehenen“ Ruderboot vergeblich zur Insel Wilhelmstein auf dem Steinhuder Meer rudern muss, von einem Feuerwerk in den Herrenhäuser Gärten abgelenkt wird, nur um festzustellen, dass die gesichteten und gemeldeten Ereignisse nichts mit Portalen nach Mygnia zu tun haben.

Da er Waldemar nicht erreichen kann, geht er mit absoluter Sicherheit davon aus, dass man Waldemar nach CERN gerufen hat. Irgendwo hat er gelesen, dass der Ort, wo es die Portale gibt, gar nicht CERN heißt, aber das ist jetzt nebensächlich, die grobe Richtung wird schon stimmen! Wäre auch verwunderlich gewesen, wenn Waldemar nicht dort wäre. Wenn es überhaupt einen Menschen auf der Erde gibt, der die Sache klären kann, oder auch ein kaputtes Portal reparieren kann, dann ist es ja wohl Waldemar!

Also beschließt Herbert, sich von keiner Meldung mehr beeinflussen zu lassen und sich nur noch darauf zu konzentrieren, irgendwie nach CERN zu kommen! Er will nur noch sicherstellen, dass es in CERN immer noch Portale gibt. Nicht, dass er da auch zu spät kommt, quasi vor verschlossenen Portalen steht. Auf www.cern.ch stehen aber weder konkrete Hinweise, Reisezeiten, was man mitbringen soll, noch, ob das inzwischen etwas kostet. Es wird sicher bald geldgierige Unternehmer geben, die aus den Reisen in die Parallelwelt mächtig Kapital schlagen wollen. Aber so weit ist es wohl noch nicht - hoffentlich!
In einem Roman von Sergej Lukianenko hat er mal gelesen, wie die Schließer vor den Portalen hocken und man ihnen Geschichten erzählen muss, um durchgelassen zu werden. Das wäre ja noch das geringere Übel. Geschichten kennt Herbert genug, so viele, dass er alle Schließer im gesamten Universum mit Geschichten versorgen könnte. Allein seine Erlebnisse, die er als Aushilfe bei der Wach- und Schließgesellschaft erlebt hat. Da war er ja quasi selbst ein Schließer. Naja, was soll‘s.

Es wurmt ihn, dass er auf der CERN-Webseite nicht in den internen Bereich kommt. Auf der offiziellen Seite steht nichts Verwertbares. Herbert geht zu dem mutmaßlichen Besitzer des Internet-Cafés und fragt ihn: „Entschuldigen Sie, kommen hier auch häufiger mal Hacker vorbei, die mir helfen könnten, die CERN-Webseite zu knacken? Ich muss unbedingt an interne Informationen herankommen! Ich würde auch ein Bier oder etwas anderes spendieren!“
Der Aufsichtsmitarbeiter des Internet-Cafés schaut ihn mit zusammengekniffenen Augen an: „Ey, Alder, bist du neben der Spur, oder was? Du fliegst hier gleich raus, du Opfer!“, quetscht er zwischen Kaugummi und Zähnen hervor. „Ich meine ja nur …“, beeilt sich Herbert, „ich komme schon zurecht, bin gleich fertig – tschuldigung!“

Herbert verzieht sich in leicht geduckter Haltung wieder an seinen Platz, starrt geschäftig auf den Monitor und jongliert virtuos mit Mouse und Tastatur, um erst einmal alle Fenster zu schließen. Man soll ja immer seine Spuren verwischen!  Aber eine Meldung auf der Startseite fesselt doch noch seine Aufmerksamkeit:

12-Jähriger kehrt aus Mygnia zurück und enthüllt sensationelle Neuigkeiten!

Da dieser Artikel vom Redakteur Alex Mars der Zeitschrift Abenteuer Universum stammt, weiß Herbert, dass jedes Wort wahr sein muss. Sowohl die Zeitschrift als auch den Namen Mars hat Waldemar häufiger erwähnt. Darum liest Herbert aufmerksam weiter.

Alex Mars war dabei, als der 12-jährige Kevin Beiermann im Fernsehstudio auftrat. Kevin war von einem Nachbarn direkt beim Sender abgesetzt worden, weil seine Mutter nicht zuhause war, als er aus Mygnia zurückkehrte. Sie wohnte schon lange nicht mehr dort. Zufällig lief gerade eine Livesendung mit Mygniaberichten, zu der Frau Professor Dr. Sudhoff und der Physiker Heiner Krombach als kompetente Gesprächspartner eingeladen waren.
Kevins Erscheinen war eine Sensation und warf den ganzen Sendeplan über den Haufen. Er durfte sofort von seinen Erlebnissen berichten. Alex Mars hatte in seinem Artikel Kevins hastige und sprunghafte Berichte in eine geordnete Zusammenfassung gebracht und Störungen, Zwischenrufe des Studiopublikums nur am Rande erwähnt. Aber er beschrieb die Tumulte ausführlich, die im Studio entstanden, als hereinstürmende Männer in langen Mänteln die Sendung unterbrachen und Kevin als auch Frau Professor Sudhoff und Heiner Krombach „hinausgeführt“ wurden, was nach Alex Mars‘ Ansicht nicht sehr höflich ablief.

Kevin hatte berichtet, dass er sich unter anderem ein zusätzliches Taschengeld dadurch verdient, dass er in größeren Abständen auf dem lokalen Golfplatz nach Golfbällen im Wald, Gebüsch, Teichen und unwegsamen Gegenden sucht. Da er dieses Geschäft schon seit dem 9. Lebensjahr betreibt, hat er schon große Erfahrung, in welchen Bereichen die meisten Golfbälle zu finden sind. So hat er schon in 3 Stunden bis zu 100 Golfbälle gesammelt. Je nach Marke bekommt er für gebrauchte Golfbälle 30 – 50 Cent. Kevin kennt seinen Vater nicht und seine Mutter arbeitet als Bedienung im Klubrestaurant  des Golfklubs. Da fließt das offizielle Taschengeld nicht so reichlich.

Als er wieder einmal nach Einbruch der Dunkelheit zwischen Loch 17 und 18 mit der Suche begann, geschah das „Wunder“.

Er war ganz plötzlich von grellem Licht umgeben. Es blitzte um ihn herum sonnenhell  und schillernd wie ein Feuerwerk. Kevin erzählte, dass er das Gefühl hatte, in ein unendlich tiefes Loch zu fallen. Er war wie gelähmt und konnte nicht einmal schreien.

Ganz plötzlich war der Spuk vorbei und er befand sich in einer Gegend, die ihm völlig unbekannt war. Er hätte aber gar keine Angst gehabt. Alles fühlte sich irgendwie warm, freundlich und gar nicht unheimlich an.
Als Kevin gerade dabei war, zu erzählen, dass er an einen Fluss kam, dessen Wasser aber nicht einfach nur blau oder grün oder braun war, sondern in vielen schillernden und teilweise glitzernden Farben leuchtete, die sich wie Fäden und Streifen in Längsrichtung schlängelten, wurde er das erste Mal massiv unterbrochen. Die Kamera schwenkte zum Studioeingang, wo es große Aufregung gab.

Kevin hatte noch Gelegenheit, die Gegend um den Fluss zu beschreiben und von Begegnungen mit merkwürdigen Wesen zu berichten. Er sei mit einem der Boote mitgefahren, die in kleinen Abständen geräuschlos den Fluss auf- und abwärts fuhren.

Wie die Wesen ausgesehen hätten, wollte der Moderator wissen. Hat er mit ihnen gesprochen?  Fuhren die Boote führerlos oder wurden sie von Wesen gesteuert?
Der Moderator spürte, dass die Sendung gleich kippen würde, und wollte noch so viele Fragen loswerden. Aber dann war es schlagartig vorbei, nachdem vermutlich die Polizei oder der Geheimdienst eingegriffen hatte.

Herbert las nicht weiter. Der Studioskandal und die ausgewalzte Berichterstattung über die Ereignisse nach Kevins „Entführung“ interessierten ihn nicht. Aber der letzte fett gedruckte Absatz bohrte sich förmlich in seine Augen.

Alex Mars schrieb in seinem Bericht, dass Kevin Beiermann, der nun plötzlich im Fernsehstudio auftauchte, vor 17 Jahren spurlos verschwunden war!  Im Alter von 12 Jahren!
Er sah aber immer noch wie ein 12-jähriger Junge aus, maximal auf 14 hätte man ihn schätzen können.

- 3 -

Herbert schlägt die Augen auf. Er hat furchtbare Kopfschmerzen und blutet aus einer Wunde an der Stirn. Er liegt hinter einem Müllcontainer, direkt an einer Backsteinwand, aus deren Fugen der Mörtel bröckelt. Er sieht alles unscharf, kann sich aber bewegen, stützt sich ab und zieht sich am Müllcontainer hoch.
Siedend heiß schießt ihm eine Gedanke durch den Kopf und er tastet nach seinem Portemonnaie. Es ist weg! Herbert trägt sein Portemonnaie immer in der Gesäßtasche seiner Jeans. In verschiedenen Fächern stecken Ausweis, Führerschein, Kredit- und alle Plastikkarten, die man so benötigt und natürlich sein gesamtes Bargeld.
Dieses Gefühl, das durch seinen Körper rast, ist fast noch schmerzhafter, als der dröhnende Kopfschmerz.  Er kennt dieses Entsetzen, er hat schon einmal in seinem Leben sein Portemonnaie verloren und wusste nicht, wie er das verkraften soll. Sein Portemonnaie zu verlieren ist für ihn ein Alptraum! Nur wenn Einbrecher seine Wohnung leerräumen würden, wäre das noch ein klein wenig schlimmer.
Ach, und wenn sein Handy weg wäre ... er reißt ruckartig die Hände hoch und tastet die Taschen seiner Jacke ab. Es ist weg! Natürlich! Wenn man jemanden überfällt, und ihm das Handy lässt, ist man Anfänger oder wird frühzeitig gestört. Hier hat scheinbar niemand gestört. Man hat ihn in aller Ruhe überfallen und ausgeraubt!
Herbert ist so elend zumute, dass er vor Wut laut schreit. Aber das Schreien ist so schmerzhaft im Kopf, dass er schnell wieder ruhig ist.
Mit einer Hand am Kopf und der anderen an der leeren Gesäßtasche schleppt er sich in Richtung Torbogen, der sicher der Ausgang dieses Hinterhofes ist.

Kurz bevor er den Torbogen erreicht, hat er eine Eingebung! Eine Idee, eine Hoffnung!
Er geht zurück zur Mülltonne und öffnet sie. Oben auf liegt sein Portemonnaie! Hastig öffnet er es. Das Bargeldfach ist leer, die Kreditkarte ist weg - die EC-Karte ist weg! Na klar! Aber irgendwie durchströmt ihn ein Gefühl der Erleichterung. Die Karten werden schnellstmöglich gesperrt und das Bargeld kann man auch verschmerzen, aber die vielen persönlichen Dinge, die sich noch in seinem Portemonnaie befinden, sind wie ein Teil von ihm selbst.

Er passiert nun die Toreinfahrt und sieht am Straßenrand ein Taxi stehen. Es sieht fast so aus, als ob der Taxifahrer auf ihn wartet. »Die stecken hier wohl alle unter einer Decke, erst überfallen sie Touristen, dann wollen sie noch eine Fuhre abstauben!«, grummelt Herbert vor sich hin. Er geht auf das Taxi zu und blafft den Fahrer an: »Mich hat man gerade niedergeschlagen und ausgeraubt! Sie können mich ja kostenlos zum nächsten Polizeirevier fahren, wenn Sie Langeweile haben!« Der Taxifahrer  schaut ihn mitleidig an, aber der Blick bringt kein Mitleid wegen des Überfalls zum Ausdruck, sondern weil Herbert wohl die falsche Ansprache gewählt hat. »Sorry, Herr Professor, ich bin der Privatchauffeur von Angela Merkel. Die ist nur kurz zu dem Kiosk rüber und holt sich Haribo Monetas!« Aber bevor es zu einem ernsthaften Streit kommt, erklärt er Herbert, dass das nächste Polizeirevier gleich um die Ecke in der Gutleutstrasse ist, und zeigt ihm die Richtung. »Paradox, so‘n Blödsinn«, flucht Herbert vor sich hin, «Gute Leute Straße, als ob es in dieser miesen Stadt gute Leute gäbe. Vielleicht in den Vororten? Aber in der Gegend um den Hauptbahnhof bestimmt nicht und über Mainhattan liest man nun wirklich nichts Gutes.«, setzt er noch einen drauf, und trollt sich.

Dann sitzt er im 4. Polizeirevier in Frankfurt. Seit über einer Stunde wartet er, dass er Anzeige erstatten kann. Ein Polizist wollte zunächst einen Krankenwagen rufen und ihn verarzten lassen, aber Herbert hatte das strikt abgelehnt. Das gab noch längere Diskussionen, Belehrungen und gute Ratschläge, aber Herbert war sich sicher, dass sein Wille und seine oft erprobte Selbstheilung völlig ausreichen würden. Sein Dickschädel hatte schließlich nicht das erste Mal Bekanntschaft mit härteren Gegenständen und unfreundlichen Menschen gemacht. Immerhin hatte er als Amateurboxer 15 Jahre lang in verschiedenen Gewichtsklassen seinen Körper gestählt. Bis es eines Tages für sein Gewicht keine Klasse mehr gab, und er Boxen und andere Sportarten lieber auf  seinem Sofa sitzend als Zuschauer erlebt hat.

Wie gesagt, Herbert ist kein Mann von Geduld. Er gibt sich noch 3 Sekunden, bis sich endlich jemand um ihn kümmert. Drei .... Zwei ... Eins ... Start! Er springt auf. Schnauze voll! Er verlässt das Polizeirevier und winkt ein Taxi heran. »Den kenne ich doch!«, denkt Herbert, und spricht seine Vermutung laut aus. Ja, Frau Merkel hätte sich das anders überlegt und wäre mit der U-Bahn zurückgefahren, nun hätte er Zeit, erklärt der Taxifahrer. Ob Herbert inzwischen Geld hätte? »Ja, natürlich!«, lügt Herbert und nennt die Adresse der kleinen Pension, in der er in Frankfurt abgestiegen ist. Dort gibt es Internet, Telefon und seine Reisetasche. Da kann er die nächsten, rettenden und wichtigsten Schritte veranlassen.

Er bittet den Portier, den Taxifahrer auszuzahlen und den Betrag auf die Rechnung zu setzen. Der Portier entgegnet empört, dass so etwas völlig unüblich sei. Herbert lässt den Taxifahrer und den Portier einfach stehen, ruft ihnen noch zu, sie sollen die Polizei, Frau Merkel oder den Papst rufen, das sei ihm egal, und geht auf sein Zimmer. Er schließt die Tür von innen zu, geht ans Telefon. Er kann Waldemar wieder nicht erreichen.
Mitten in der Nacht poltert es an Herberts Hotelzimmertür - die Tür fliegt auf - ein ca. drei Meter großes, zotteliges Wesen mit Hörnern steht im Zimmer. Eine raue, tiefe Stimme dröhnt: »Steh auf Herbert, ich soll dich abholen!«

- 4 -

Herbert geht fest davon aus, dass dieses Wesen ein Bürger des Erdvolkes ist. So wurde ein Teil der Bevölkerung Mygnias jedenfalls beschrieben. Dass sie nicht 3 Meter lang beschrieben wurden, fällt Herbert in der Aufregung gar nicht auf. Er springt auf und will seine Tasche packen.
„Da, wo wir hingehen, brauchst Du Deine Tasche nicht!“, stoppt ihn der große Zottelige und Herbert spürt dabei den heißen Atem des Wesen auf mehrere Meter Entfernung.
„Moment!“, antwortet Herbert nun etwas lauter, „was ich brauche und was nicht, bestimme immer noch ich selbst! Es ist sowieso verdammt wenig, was ich für eine ausführliche Expeditionsreise nach Mygnia mitnehmen will. Wenn es mir dort gefällt, und ich dort bleiben will, lasse ich noch einige Dinge aus meiner Wohnung nachkommen. Sicher, ich kann auch viel verkaufen, einige Sachen kann ich auch meinem Nachbarn schenken ...
„HALT den Mund!“, brüllt ihn das Monster nun an, und macht mit seiner Körperhaltung deutlich, dass es bereit ist, Herberts Abreise auch mit Gewalt einzuleiten.
„Was ist denn?“, fragt Herbert 2 Oktaven kleinlauter. „Ich dachte ...“
„Du sollst nicht denken, sondern einfach nur in die Strümpfe kommen, wir haben noch einen weiten Weg nach unten.“ „Entschuldigung“, Herbert versucht es nun mit etwas Höflichkeit, „wieso nach unten? Liegt Mygnia nicht irgendwo oben?“
„Was faselst Du von Mygnia?“ „Hast Du nicht gehört, wie vorhin der Taxifahrer gerufen hat, der Teufel solle dich holen? - Nun, jetzt ist es so weit, ich bin Bodyguard und Eintreiber beim Teufel persönlich und hole alle ab, die nicht freiwillig kommen, noch unentschlossen sind oder von Feinden geschickt werden.“
„Moment, Moment“, versucht Herbert seine Gedanken zu ordnen. „Irgend so ein hergelaufener Taxifahrer kann den Teufel veranlassen, jemanden abzuholen? Hat der dafür seine Seele verkauft oder war Luzifer ihm noch was schuldig, weil er potentielle Höllenkandidaten im Straßenverkehr platt gemacht hat? Ein paar BMW-Fahrer in die Leitplanken geschubst... haha haaaaaha ...“, Herbert will sich totlachen. Nein, totlachen lieber nicht, dann kann er sich sicher noch weniger gegen die Hölle wehren! Er muss jetzt ernsthaft analysieren, argumentieren und sich schnell etwas einfallen lassen, wie er aus dieser Sackgasse raus kommt. Das ist ja jetzt noch eine Potenz schlimmer, als der Hinterhof mit der bröckeligen Mauer, der Mülltonne und der dicken Beule am Kopf. Er würde glatt sein komplettes Portemonnaie hergeben, um nicht in die Hölle zu müssen. Was er über die Hölle gehört hat, klingt überhaupt nicht verlockend. Er ist bei kritischer Selbstbetrachtung auch nicht davon überzeugt, dass er in den Himmel kommt. Er hängt also in der Luft - in der goldenen Mitte, aber vermutlich gibt es nur entweder oder. Darum war er ja so unendlich froh, dass nun mit Mygnia endlich eine konkrete Alternative aufgetaucht ist. Er muss keine Angst mehr haben, im Himmel vielleicht abgelehnt zu werden, und Hölle kommt nun wirklich nicht infrage. Auf Mygnia kann er länger leben, als wenn er auf der Erde mehrfach inkarniert würde.
Als er noch nichts von Mygnia wusste, hatte er schon begonnen, gute Taten zu vollbringen. Er hat schon mal ein Paket für seinen Nachbarn angenommen und tapfer darauf verzichtet, nachzuschauen, was drin ist, er kauft einmal im Monat „Asphalt“, die Straßenzeitung der Obdachlosen in Hannover, und ...
Mit einer erneuten Aufforderung unterbricht der Diabolo-Security-Mann seine Gedanken. „Wenn Du nicht auf der Stelle in die Gänge kommst, nehme ich nur Deine Seele mit und werfe Deinen Körperschrott in den Main.“ Herbert erschreckt mächtig und versucht, sich zu beruhigen.
„Darf ich trotzdem noch fragen, worin der Unterschied besteht, ob ich mit oder ohne Körper in die Hölle komme?“, versucht er mit versöhnlicher Stimme zu fragen.
„Ganz einfach, mit Körper machen verbotene und ungesunde Dinge viel mehr Spaß, als ohne! Hast Du schon mal ohne Körper Sex gehabt oder ein paar Flaschen Wein getrunken?“ Nun wird Herberts Interesse doch noch geweckt.
„Sag mal, lieber Vizeteufel, wäre es möglich, wie im Reisebüro vorher auszusuchen, welche Orte, Leistungen, Essen und Services man in der Hölle buchen möchte? Auf jeden Fall ohne Fegefeuer!“ An der Mine seines Gesprächspartners erkennt er, dass er nur noch Sekunden hat, bis ihm die Seele aus dem Leib gerissen wird. Schnell fragt er noch, wie der diplomatische Vertreter der Hölle heißt, damit er ihn höflich anreden kann, wenn sie nun schon gemeinsam weiterreisen..
„Euronymous, wie der griechische Prinz des Todes“, antwortet der tatsächlich. Herbert muss ein Lachen unterdrücken und die Bemerkung, dass er nun wisse, warum der Euro Euro heißt, und warum der Prinz des Todes aus Griechenland kommt. Aber er will ihn nicht noch mehr verärgern und lobt ihn für den klangvollen Namen und versichert ihm, dass so ein stattlicher Kerl sicher nicht lange Prinz bleibt, sondern König oder Kaiser wird. Euronymous erwidert, dass er auf Herberts Schleimerei verzichten könne, dass man selbstverständlich in der Hölle das bekäme, was man verdiene, und nicht das, was man sich wünsche!
Dass Schleimen nicht immer hilft, hat Herbert schon gelernt, darum versucht er es noch mit Bestechung. „Ich würde Dir meine komplette Wohnungseinrichtung schenken und Dir mindesten 2 Alternativseelen besorgen. Ich kenne einige Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als in der Hölle zu schmoren. Wenn nicht sie selbst, dann aber auf jeden Fall ihre Angehörigen!“
Nun reißt Euronymous‘ Geduldsfaden endgültig und er schnappt Herbert beim Kragen und hält ihn locker mit einer Hand einen halben Meter über dem Fußboden. Er schüttelt ihn, und schüttelt ihn noch einmal und lässt ihn einfach fallen. Herbert schlägt hart auf - direkt neben seinem Hotelzimmerbett. Er liegt längs des Bettes auf dem Fußboden und ist hellwach. Er schaut sich im Zimmer um. Hier ist kein zotteliger Prinz der Hölle! Gott sei Dank!  Herbert hat immer noch starke Kopfschmerzen. Ist durch den Schlag auf den Kopf sein Bewusstsein getrübt, oder hat er das jetzt wirklich erlebt und Euronymous hat ihn für noch nicht reif genug befunden?
Während er noch grübelt und überlegt, wie er das herausfinden kann, was wirklich geschieht und was nicht, hämmert es wieder laut an seiner Zimmertür. „Herr Kupfermann, machen Sie sofort die Tür auf! Hier ist die Polizei!“
„Nein, nicht schon wieder“, denkt Herbert. „Ich habe für heute genug diskutiert!“ Er schnappt sich seine Reisetasche und klettert aus dem Fenster. Es ist nur ein Sprung von 1 Meter auf das Dach eines flachen Schuppens. Er späht über den Rand des Daches und sieht ein paar Meter weiter einen Müllcontainer. Das zweite Mal auf dieser Reise hilft ihm ein Müllcontainer weiter. Als er ihn als Kletterhilfe benutzt und heile im Hinterhof angekommen ist, nimmt er sich die Zeit, noch kurz den Deckel zu heben und hineinzuschauen. Aber es liegt weder ein halb volles Portemonnaie noch etwas anderes Brauchbares drin. Nun aber nix wie weg! Er grinst und denkt an den Roman: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand. Wenn Allan Karlsson das noch locker mit 100 durchzieht, würde er mit 59 doch nicht auf dem Hotelzimmer hocken und warten, bis ihn der Teufel oder die Polizei abholt!

Er klettert über die Mauer zum Nachbarhinterhof und sucht den Ausgang zur Straße. Kaum ist er abgebogen, legt sich eine schwere Hand auf seine Schulter, hält ihn schmerzhaft fest, wie in einem Schraubstock eingeklemmt.

Herbert benötigt als sportlicher Mensch keine drei bis fünf Sekunden, um sich ruckartig umzudrehen. Aber in diesen Sekunden läuft ein kompletter Lebensfilm in seinem Kopf ab. Bild 3D und Ton mit Dolbygetöse ringsherum. Es ist keine vollständige Autobiographie, aber die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit werden abgespult.. Dann schiebt sich ein Gedanke in den Vordergrund. »Ich habe doch eigentlich nichts verbrochen! Warum flüchte ich? Im Gegenteil, ich wurde hier überfallen, ausgeraubt und gedemütigt. Bisher hat das niemanden interessiert. Niemand will mir helfen, wenn ich dafür nicht fürstlich bezahlen kann. Vor der Polizei hat er die geringste Angst. Da kassiert er maximal eine Anzeige wegen Zechprellerei. Bis der Bußgeldbescheid oder wie das bei kleinkriminellen Delikten heißt, zugestellt wird, ist er entweder schon auf Mygnia, die bestimmt kein Auslieferungsabkommen mit der Erde haben, oder er hebt die paar Kröten einfach von seinem Sparbuch ab. Die 270,- Euro-Erbschaft seiner Mutter hat er bis dato allerdings schonen wollen. Es stehen auch noch irdische Projekte an, die finanzieller Investitionen bedürfen. Der nächste Gedanke schockiert ihn allerdings wie der Einschlag einer Dicken Bertha. Selbst bei einem Schwerverbrechen müsste er vor der Polizei nur geringfügige Angst haben, gegenüber der Möglichkeit, dass der Türsteher der Hölle es sich doch anders überlegt hat und ihn reinlassen will. Was heißt »wollen«? Wenn der sich was in den Kopf gesetzt hat, lässt der dem Kandidaten sicher keinerlei Wahl! Herbert überlegt sich schnell unbekannte, ansteckende Krankheiten, die ihn zur tickenden Zeitbombe machen, von denen nur er und Professor Dr. W. Waldemar wissen, die selbst den Teufel hinraffen würden.  Dass seine Schutzengel mit den allerneuesten intergalaktischen Waffen ausgerüstet sind, die in Sekunden die komplette Hölle wegpusten würden. Himmel hilf, was kann so einen teuflischen Head- und Soulhunter von seinem Plan abbringen?! Er hat das Gefühl, in Sekundenbruchteilen 10 Liter Schweiß zu verlieren - der läuft den Rücken runter, um den Rettungsring herum und direkt in die Hose. Noch im Umdrehen tastet er zum Reißverschluss. Nicht einmal in dieser Situation möchte er in peinlicher Kleiderordnung da stehen!

Dann hat er den Mann im Blick, der seine Schulter fast zerquetscht hat. Ein gutmütiges Gesicht, das aber eine verärgerte Mimik übt, mit großen, blauen Augen, einer zu klein geratenen Nase und einem Mund, der eigentlich nur lächeln kann, aber jetzt die Zähne zeigt. Das sieht aber eher so aus, als würde er gleich Zahnseide hervorholen und die Lücken reinigen. Der Rest des ca. 205 Zentimeter langen Mannes steckt in weißer Koch- oder Bäckerkleidung. Die weiße »Schiffchenmütze« sitzt auf seinen flusigen Haaren schräg und keck, wie die Kappe eines amerikanischen Besatzungssoldaten auf Urlaub.
»Habe ich dich endlich erwischt, du Eierdieb«, grinst er fast freundlich. Herbert vergisst vor Erstaunen das Luftholen und läuft rot an.  Der weiße Riese wertet das als beschämtes Ertapptwerden und schlägt schon die weitere Vorgehensweise vor, in der wieder alles vorkommt: Bezahlen, Polizei, Prügel und ... in die Hölle fahren. »NEIN!« schreit Herbert,«alles, aber mit der Hölle will ich nichts zu tun haben!«

Nach einer ausführlichen Aussprache, in der Herbert erklärt hat, wie er auf diesen Hinterhof kommt, und zwar das erste Mal in seinem Leben, glaubt ihm der Pizzabäcker Theo sogar, dass er noch nie Eier, Pizzateig oder Weinflaschen gestohlen hat.
Theo ist der erste Mensch in Frankfurt, der Verständnis für Herberts Notsituation hat. Allerdings hat er auch nichts zu verschenken. Herbert könne sich bei ihm gerne ein paar Euro verdienen, um seine Reise fortsetzen zu können. Wenn er ordentlich arbeiten würde, könne Theo ihm sogar ein altes Prepaidhandy schenken.
»Was kannst du? Welche Arbeiten kannst du in einer Pizzeria übernehmen?«, fragt Theo. »Och, ich kann eigentlich alles«, sagt Herbert. »Am besten wäre es, ich halte mich im Laden auf und sorge für Ordnung. Hier im Bahnhofsviertel scheint ziemlich übles Gesindel durch die Straßen zu ziehen«, schlägt Herbert vor. Theo grinst, »du als Beschützer? Na, ich weiß ja nicht. Was hast Du denn so drauf? Eben warst du ja ziemlich hilflos!« »Ich wollte dir nicht weh tun, ich habe gleich gemerkt, dass du ein guter Kerl bist«, gibt Herbert vor. »Ich bin ausgebildeter Kampfsportler - Judo, Karate, Taifun, Tamagotchi, Karaoke, alles, was du willst. Da könnten 5 Mafiakassierer kommen, die würden nach meiner Behandlung wie die Hasen flüchten, falls sie überhaupt noch laufen können. Die gesparten Schutzgelder kannst du mir gleich geben! Am besten im Voraus! »
»Oh Herbert, ich fing gerade an, dich ein klein wenig zu mögen, du hast gute Augen, aber entweder ist dein Hirn im Eimer oder du bist auf Droge!«, bringt Theo doch reichlich enttäuscht vor.
»Ich könnte auch mit dem Lieferwagen Pizzen ausliefern«, schlägt Herbert vor. Theo sieht ihn nur an. »Oder mit dem Moped? - Mit einem Fahrrad?«, Herberts Augen glänzen. »Sag nicht zu Fuß - BITTE!«, Herbert will gerade von seinem Knieleiden erzählen, und dass er zu Fuß fürchterliche Schmerzen hat, aber dass Radfahren für ihn ideal ist. Er sei schon einmal an einem Tag ....
»Ok.ok«, sagt Theo. »Ich behalte Deine Reisetasche als Pfand und leihe dir ein altes Fahrrad. Das hat zwar keine Gangschaltung, aber weiter als 10 Kilometer ist kaum eine Tour. Kennst Du dich in dieser Gegend aus?« »Frankfurt kenne ich wie meine Westenta  .. ähm, apropos Tasche, ich habe da ein Navi drin, was sogar Fußgängernavigation beherrscht. Das kann wirklich alles! Nur Karten von Mygnia sind noch nicht drin. Man könnte den Auslieferungsprozess wesentlich optimieren, wenn man dem Transporteur moderne Hilfsmittel zur Verfügung stellt.« Theo nickt. »Ach, und noch etwas«, ergänzt Herbert,«hast du einen ganz einfachen Schlafplatz für mich? Und ich würde gerne einmal telefonieren. Ich muss unbedingt meinen Freund Waldemar anrufen!«
»Keine Sorge«, sagt Theo, »bis Frankfurt-Mygnia musst Du bestimmt nicht fahren. Von dort hat noch niemand angerufen und Pizza bestellt. Vermutlich wäre die auch kalt, bis man sie abgeliefert hat. Das scheint ja weit weg zu sein.«
Herbert verkneift es sich, die Sache mit Mygnia näher zu erklären. Vielleicht erreicht er ja Waldemar sogar noch, bevor er die erste Pizza durch Frankfurt schaukelt.
Es wäre mal wieder an der Zeit, etwas Glück zu haben!

- 5 -

Herbert wohnt seit 3 Tagen bei Theo. Die 3-Zimmerwohnung in der ersten Etage über der Pizzeria ist schlicht und funktional eingerichtet. Seit drei Jahren lebt Theo alleine in der Wohnung, weil seine Freundin sich mit einem der Aushilfspizzabäcker so intensiv angefreundet hat, dass selbst der gutmütige Theo die Verteilung ihrer Zuneigung unausgewogen fand, und sich mehr als benachteiligt fühlte. So hatte Theo Lydia den Vorschlag gemacht, sofort auszuziehen. Theo ist in der Lage solch eine Bitte in einer Form vorzutragen, die auch ohne die geringste Form der »Gewaltandrohung« die Gewissheit vermittelt, dass es zu seinem Vorschlag keine Alternative gibt. Lydias Auszug war kurz und schmerzlos. Aber auch in so einem Riesen, vermutlich gerade in solch einem überdimensionierten Leib ist viel Platz für eine große Seele, die mächtig weinen kann.
Da Theos ohnehin lautes Schnarchen durch seinen mächtigen Resonanzkörper wie in einer Basstrommel verstärkt wird, hatte er schon zu Lydias Zeiten ein eigenes Schlafzimmer. Nach Lydias Auszug war ihr Zimmer auf die nackten Möbel reduziert und diente von Zeit zu Zeit angestellten Pizzabäckern als Schlafplatz, bis sie eine eigene Unterkunft gefunden hatten oder weiterzogen. In dieser Branche gibt es eine große Fluktuation, entnimmt Herbert Theos Ausführungen. »Ach, darum nennt man sie »Pizza-Nomaden!«, mutmaßt Herbert. »Nein, Pizza-Nomaden sind Pizzabäcker mit einer mobilen Holzofen-Pizzeria«, verbessert Theo ihn, «so habe ich auch mal angefangen.«
Herbert findet es fast schade, dass auch er weiterziehen muss. Seit langer Zeit hat er wieder einmal ein Gefühl der Geborgenheit und nicht alleine zu sein. Obwohl Theo zehn Jahre jünger ist, fühlt er sich neben dem großen Kerl manchmal wie ein kleiner Junge. So wie er sich auf intellektueller Ebene neben Waldemar immer etwas »klein« fühlt, so strahlt Theo eine Form der Überlegenheit aus, die sich nicht nur durch Körpergröße, sondern auch durch ein scheinbar unerschütterliches Selbstbewusstsein zeigt. Mit Selbstbewusstsein ist Herbert ja auch reichlich ausgestattet, aber er staunt über sich selbst, dass er gar kein Bedürfnis hat, Theo seine Meinung aufzuzwingen. Eher möchte er ihn um Rat fragen. Aber in den wesentlichen Punkten seiner momentanen Lebenszweifel wagt er keine offene Aussprache. Für einige Gefühle und Gedanken schämt er sich fast - aber nur fast! Andererseits hat er oft das Gefühl, Theo auf die Schulter klopfen zu müssen und ihm zu versichern, dass alles gut wird! Vor allem wenn Theo mal nicht lacht, sondern traurig ausschaut. Herbert müsste das Wort Ambivalenz sicher bei Wikipedia nachlesen, wenn ihm klar wäre, was mit ihm passiert. So keimt nur der Gedanke in ihm, dass er vermutlich einem echten Kumpel begegnet ist, vielleicht sogar einem Freund. Er beschließt, Theo auf gar keinen Fall zu hintergehen oder zu enttäuschen. Vielleicht kann er ihn gar überreden, nach Mygnia mitzukommen? Das wäre eine coole Sache. »Ich und Theo«, denkt er, «wir würden Mygnia rocken und selbst so ein Ylim Yr hätte bei einem Angriff keine Chance gegen das Dreamteam. Theo würde das Viech vom Himmel greifen und er würde ihm am Boden den Rest geben - mit Kung Fu oder Baseballschläger.
Herbert beschließt, Theo sukzessive eine Reise nach Mygnia schmackhaft zu machen. Auch die Mygnianer würden sich sicher freuen, statt Maden und Käfer mal eine anständige Pizza zwischen die Zähne zu kriegen. »Ich muss Theo unbedingt fragen, wie groß und schwer so ein mobiler Pizza-Holzofen ist, und dann muss ich herausfinden, welche Transportleistung so ein Portal hat«, beschließt er.

Herbert darf Theos PC benutzen. Er recherchiert jede Nacht nach Feierabend alle Berichte und Informationen über Mygnia. Zunächst interessiert ihn die Bevölkerung Mygnias, weil er nach seiner Ankunft sicher Kontakt aufnehmen und Hilfe in Anspruch nehmen möchte.
Was er über die Ylim Yr (http://www.mygnia.de/wiki/mygnia.de/view/Main/Ylim+Yr ) liest, hört sich nicht so gut an. Die können zwar fliegen und Herberts Wunsch war es schon immer, fliegen zu können. Wenigstens im Traum ist er in der Lage dazu, und nutzt diese Fähigkeit auch regelmäßig, obwohl mal jemand behauptet hat, dass ältere Menschen (über 40) im Traum nicht mehr fliegen können. Herbert beweist aber schon seit 19 Jahren regelmäßig das Gegenteil. Allerdings klingen die anderen Eigenschaften der Ylim Yr sehr aggressiv und nicht gerade freundlich. Mag sein, dass sie nur das Mygnia-Erdvolk nicht mögen und bei Touristen von unserer Erde oder Einwanderern keinen Fremdenhass zeigen, aber wer weiß das schon?
Die Beschreibung des Erdvolkes gefällt ihm schon wesentlich besser!  ( http://www.mygnia.de/wiki/mygnia.de/view/Main/Erdvolk )
Neben ihrem sympathischen Auftreten haben sie vor allem eines, warum man sich mit ihnen anfreunden sollte: die Meline! Ohne Melin ist man im Nahverkehr zwischen Erde und Mygnia wohl ziemlich aufgeschmissen. Kann ja nun nicht jeder so ein Beschleunigungsdingens wie das in CERN bauen, um mit einer geringen Wahrscheinlichkeit ein Portal zu öffnen. Besser man hat so ‘n Melin in der Tasche oder um den Hals hängen.

- 6-

Herbert hat sich einen Bart stehen lassen, trägt nun ständig eine schwarze Basecap-Mütze, und wenn es nicht zu dunkel ist, eine Sonnenbrille. Gestern war der Portier von der Pension nebenan in der Pizzeria und hat ihn nicht erkannt. Herbert hatte besonders unbeteiligt die Preisliste studiert und den Portier auch nicht direkt angeschaut. Da er mit Sicherheit noch auf der »Fahndungsliste« steht, wollte er kein Risiko eingehen. Ganz klar, wenn er reich ist, wird er natürlich alle Schulden bezahlen, die hier und da aufgelaufen sind.
Er ist gerade unterwegs in die Paul-Ehrlich-Straße, um eine Pizza auszuliefern. Er muss dazu die Friedensbrücke überqueren und schaut runter auf den Main. Er schätzt den Fluss auf mindestens 150m Breite. Seine Gedanken »funken« durch seinen Kopf wie unzählige überlagerte Kurzwellensender. Trotzdem nimmt er sich noch die Zeit, wie neulich wegen der Gutleutstrasse, sich nun über die Ehrlich-Straße aufzuregen. Auch Friedensbrücke klingt so friedlich. Alles im Gegensatz zu dem, was er bisher in Frankfurt erlebt hat. Nicht nur, dass er knapp einem Raubmord entgangen ist, sondern auch verschiedene Erlebnisse in Frankfurts »Roter Meile«, deren Bewohnerinnen und Bewohner für seinen Geschmack zu oft etwas bei Theo bestellen. Als er das erste Mal in die Taunusstraße radeln musste, um Pizzen auszuliefern, hat er sich sehr gewundert, dass Theo dort Kundschaft hat. In der Taunusstraße gibt es noch mindestens eine Pizzeria, die ja viel näher läge. Auf Rückfrage hatte Theo ihm nur knapp geantwortet, dass diese Kunden noch aus Lydias Zeiten stammen. Sie hätte viele Freundinnen überzeugt, dass Theos Pizzen die besten Frankfurts sind.
Auf dem Rückweg schaut Herbert zufällig in das Schaufenster eines Geschäftes, in dem ein großer Flachbildfernseher damit beschäftigt ist, eine Dauernachrichtensendung abzuspulen. Das hätte Herberts Aufmerksamkeit nicht gefesselt, wenn nicht gerade in der eingeblendeten Laufschrift am unteren Bildrand die Worte »Lichterscheinung«, »Menschen verschwunden« und »Feldberg« Alarmglocken bei ihm ausgelöst hätten. Leider sieht er nur das Bild und kann der professionell entsetzten Mimik des Nachrichtensprechers entnehmen, dass etwas passiert sein muss. Er beschließt, sofort zurückzuradeln und Theos PC anzuwerfen. Im Internet gibt es sicher aktuelle Meldungen.
Er holt alles aus dem alten Drahtesel raus, was der in Zusammenarbeit mit Herberts abgeschlafften Radlerbeinen hergibt. Er kann gerade noch einen Zusammenstoß mit einem Bus verhindern. »Nicht schon wieder!«, schreit seine innere Stimme. »Straßenbahn in Hannover, Bus in Frankfurt, haben die denn alle etwas gegen mich?« Irgendwie schafft er es, unfallfrei anzukommen, und hat dabei andere Verkehrsteilnehmer kaum gefährdet und nicht mehr als nach den Umständen unvermeidbar behindert oder belästigt.
In Theos Wohnung angekommen, schaltet er sofort den PC ein und wartet ungeduldig,  bis der gebootet hat. Wenn man es eilig hat, dauert das Booten noch sehr viel länger als sonst. Auch ist dann gerade mal wieder ein Update der Virensoftware nötig, und noch ein Update, und noch eines. »Mach schon!«, schreit Herbert den PC an. »Blöde Kiste!« Als sich endlich ein Browserfenster öffnet und er noch gefragt wird, ob er nicht die neuste Version des Browsers downloaden möchte, ist sein Geduldsfaden schon so gut wie gerissen. Theo hat das Zimmer betreten und holt ihn wieder in die Realität zurück. »Herbert, du hast noch nicht Feierabend! Es sind noch 2 Bestellungen offen.«
Herbert springt aufgeregt vom Stuhl auf und stürmt auf Theo zu.

»Theo, Theo, ich muss ganz schnell ins Internet, es gibt vielleicht Portale, ganz in der Nähe! Ich muss zum Feldberg, ich muss ...« Theo unterbricht ihn:«kannst du alles machen, wenn du die beiden Bestellungen ausgeliefert hast.«


Als Herbert dann endlich Feierabend hat, hockt er sich sofort wieder vor den PC.
(Wir Leser wundern uns sicher, wie »artig« Herbert alle Anweisungen von Theo befolgt. Wir haben ihn ja eigentlich als sehr selbstbewussten und eigenwilligen Gesellen kennengelernt. Aber Theo hat eine Autorität, die selbst einen Herbert im Zaum halten kann.)
Herbert liest aufmerksam alle Berichte über die Lichterscheinungen auf dem Feldberg. Er bittet Theo, mit dem Lieferwagen mal zum Feldberg fahren zu können. Der blickt ihn aber ganz gelassen an und zeigt mit dem Daumen auf das »Dienstfahrrad«. «Das sind nur schlappe 30 km von hier bis zum Feldberg. Mach hurtig, damit du zum Dienstbeginn rechtzeitig wieder hier bist!
»Ey! Spinnst du?«, jammert Herbert.«Mit dem alten Drahtesel ohne Gangschaltung! Feldberg - da kommt das Wort »Berg« drin vor, und das bedeutet, da geht es steil bergauf! Wenn ich mein Fahrrad hier hätte - 21 Gänge - alles Shimano - Scheibenbremsen - Nabendynamo - Sattelfederstütze .... »Dann hol es her«, unterbricht Theo mal wieder Herberts Redeschwall. Theo mag es nicht, wenn unendlich lange diskutiert werden muss. Ein »Nein« genügt doch. Es ändert doch auch nichts, wenn noch lange palavert wird, warum und warum nicht.

Herbert ist »etwas geknickt« und zieht sich schmollend wieder an den PC zurück. Er geht auf eine Chatseite, die ihm zwar etwas unheimlich ist, aber er hat das Gefühl, dass hier die echten, harten Jungs verkehren, die genau wissen, was sie wollen, was zu tun ist, und das auch ohne »falsche« Rücksichtnahme gegenüber Zweiflern, Mutlosen, Unwissenden oder Konkurrenten, die Mygnia auch als Erste erobern wollen.

Da Herbert sich im Untergrund noch nicht so gut auskennt, versucht er zunächst, etwas Beachtung zu finden. Er erzählt freimütig von seinen Plänen, nach Mygnia zu reisen. Wie es so seine Art ist, übertreibt er mächtig. Dass er sehr zuversichtlich ist, Meline »besorgen« zu können, weil er hochrangige Wissenschaftler wie zum Beispiel den Physiker Waldemar Hochleitner kennt, der maßgeblich am Bau portalerzeugender Maschinen beteiligt ist. Er erzählt, dass er sicher sei, dass sein Freund Waldemar inzwischen dick im Mygniageschäft sitzt, wie auch immer das im Detail aussehen mag. Er dürfe über Einzelheiten natürlich nicht sprechen.

Was Herbert nicht ahnt, dass das Internet inzwischen von den verschiedensten Interessengruppen durchforstet wird, stellenweise abgehört wird und Internetnutzer zurückverfolgt werden, die für Regierungsstellen, Geheimdienste, zwielichtige Unternehmer und das organisierte Verbrechen »interessant« erscheinen, Geheimnisse zu lüften oder vertrauliche Informationen zu liefern. So geht er völlig ahnungslos ins Bett und bereitet sich auf einen schönen Traum vor. Er träumt immer sehr aufregend!


Herbert hat ein Déjà-vu. Er schreckt mitten in der Nacht hoch. Es poltert im Flur, die Tür wird aufgerissen, es stehen 3 Männer mit schwarzen Strumpfmasken im Zimmer.
Nur dieses Mal will niemand auch nur im Ansatz mit ihm diskutieren, ob Hölle oder nicht. Zwei der Männer schnappen Herbert ziemlich brutal, während der dritte mit Pistole im Anschlag an der Tür wartet. Herbert bekommt irgendetwas aus undurchsichtigem Stoff über den Kopf gestülpt und seine Hände werden auf dem Rücken gefesselt. Er wird unsanft aus der Wohnung gezerrt, die Treppe hinunter, auf die Straße und in einen Lieferwagen verfrachtet. Er hört die Schiebetür - die klingt nach VW-Bus - nach altem VW-Bus. Ab geht die Post.

Der Laderaum des Kleinbusses scheint nicht ganz leer zu sein. Herbert spürt, dass seine Füße gegen etwas Weiches stoßen. Er will das näher untersuchen, hat aber wenig Erfahrung, etwas mit den Füßen zu ertasten. Als er ein wenig zu fest »tastet«, hört er ein leises Stöhnen. Er ist nicht alleine in diesem »Gefangenentransport«. Ehe er lange rätseln muss, fragt Theo: »Herbert?« »Theo! Was machst du denn hier?«, Herbert fällt keine bessere Frage in dieser Situation ein. »Wie viele Kompanien haben dich denn überwältigt?« Das müssen mindesten 20 Einzelkämpfer gewesen sein, die dich überreden können, als Opfer an einem Entführungsfall teilzunehmen.«
»Sehr witzig«, sagt Theo. Mit einer Pistole direkt an der Schläfe lasse ich mich schon mal überzeugen, für eine Weile mitzuspielen. Die haben mich gefragt, ob ich Herbert heiße, oder weiß, wo Herbert ist.« »Und du hast denen das nicht gesagt?«, staunt Herbert. »Nö, natürlich nicht! Aber es hat ja wohl nicht viel genützt, außer dass ich nun auf dich aufpassen kann.«
Der VW-Bus wird durch die Kurven gepeitscht, dass es Theo und Herbert ständig hin und her schüttelt.
»Hast Du auch so einen dämlichen Sack auf dem Kopf?«, fragt Herbert.«Ja«, kommt es lakonisch von Theo. »Wir könnten versuchen, die Dinger irgendwie vom Kopf zu ziehen«, schlägt Herbert vor. »Mit den auf den Rücken gebundenen Händen ist das zwar schwierig, aber nicht unmöglich.« »Das würde ich nicht machen«, meint Theo. » Solange wir sie nicht erkennen oder den Ort wiedererkennen, an den sie uns bringen, haben wir bestimmt größere Überlebenschancen!«
Das Wort Überlebenschancen löst nun erst richtige Panik in Herbert aus und ihm wird klar, dass das kein Betriebsausflug der Pizzainnung wird. Es läuft ihm abwechselnd heiß und kalt über den Rücken. »Wie lange hast Du denn schon kein Schutzgeld bezahlt?«, will Herbert wissen. »HEEEERBERT! Die haben nach DIR gefragt, hast du das schon wieder vergessen?«, man merkt Theos Stimme an, dass er nicht wegen der Entführung, sondern wegen Herberts Naivität langsam die Geduld verliert.
Der Wagen hält mit quietschenden Reifen an. Die beiden Gefangenen werden noch einmal heftig gegen die Trennwand zur Fahrerkabine geschleudert, die Schiebetür wird aufgerissen, sie werden brutal ins Freie gezerrt und scheinbar in eine Halle bugsiert. So klingen jedenfalls alle Umgebungsgeräusche, wie in einer großen Halle, registriert Herbert. Die beiden sind immer noch gefesselt und haben noch die Stoffsäcke auf dem Kopf, die alles komplett verdunkeln.
»Wer von Euch ist Herbert?«, fragte eine Stimme, die Chromstahl durchschneiden könnte. »Ich«, sagte Theo. »Nein, ich!«, widerspricht Herbert.

In einer kleinen Seitenstraße in der Nähe des Frankfurter Hauptbahnhofes ist der Teufel los. Unzählige Blaulichter, Feuerwehr, Krankenwagen und Streifenwagen verstopfen die ganze Straße. Aus einer kleinen Pizzeria quillt immer noch tiefschwarzer Qualm. Die Pension nebenan scheint evakuiert worden zu sein, denn schräg gegenüber stehen eine Menge Menschen auf dem Bürgersteig, die so aussehen, als hätte man sie gerade aus dem Bett geholt. Ein Augenzeuge berichtet der Polizei, dass er beobachtet hat, wie 3 maskierte Männer den Pizzabäcker Theo und einen anderen Mann in einen VW-Bus verfrachtet haben. Die beiden hatten zwar schwarze Juteeinkaufstüten oder etwas Ähnliches auf dem Kopf, aber Theo erkennt man auch, wenn ein paar seiner 205 Zentimeter verhüllt sind. Zwei der Dunkelmänner wären in den Kleinbus gestiegen und losgebraust und der dritte Gangster wäre mit einem Motorrad geflüchtet. Gleich anschließend wären die Flammen aus der Pizzeria geschlagen.

»Da ich Gewalt hasse, möchte ich hier nicht detailliert beschreiben, wie Theo und Herbert beim »Verhör« Zigarettenkippen auf den Handrücken ausgedrückt, die kleinen Finger umgebogen wurden und gedroht wurde, mit einem Handbohrer diverse Zahnplomben zu entfernen, bevor sie mit einem alten Heizungsrohr windelweich geschlagen wurden. Jedenfalls hatten alle beide hinterher kaum noch Kraft, sich aufzurappeln.«

Nachdem die Entführer aus ihnen herausgeprügelt hatten, dass Theo tatsächlich nur ein harmloser Pizzabäcker ist und Herbert ein noch harmloserer Aufschneider, der weder Meline besitzt, noch welche besorgen kann, wurden die beiden einfach ans Mainufer transportiert und aus dem Bus hinausgeworfen.

Da sitzen die beiden nun am Flussufer und zerren sich endlich die Säcke vom Kopf.  »Siehste«, sagt Theo, »wir leben noch!« Herbert ist so kleinlaut wie noch nie in seinem Leben. »Danke, Theo! Danke, dass Du mir geholfen hast, danke, dass Du gesagt hast, du seist Herbert und mich schützen wolltest. Danke, dass du ..« »Halt jetzt endlich die Klappe!«, Theo mag keine langen Reden.

Als sie sich endlich von den Fesseln befreit hatten, sich nach Hause durchgeschlagen haben und vor der ausgebrannten Pizzeria stehen, lässt Herbert sich einfach auf den Bürgersteig fallen. Dort hockt er, sprachlos, total erschöpft - fast »am Ende«.
Theo steht dort, immer noch wie ein Riese, dem niemand etwas tun kann - äußerlich gelassen. Als Herbert zu ihm aufschaut, meint er zu sehen, wie aus Theos linkem Auge eine Träne kullert.

- 7-

Seit zwei Tagen »campen« Herbert und Theo oben auf dem Feldberg. Sie hausen in Theos Lieferwagen. Als sie am ersten Tag oben ankamen, hatte Theo nur trocken bemerkt, dass Herbert das mit dem Fahrrad tatsächlich nicht geschafft hätte, und ihn als »schlaffen Puffer« bezeichnet. Herbert hatte pflichtbewusst gelacht, aber ihm war bis heute noch nicht zum Lachen zumute. So schnell, wie Theo die Ereignisse weggesteckt hat, schafft er das nicht. Er ist immer noch verwundert, dass Theo nach dem Brand einfach gesagt hat: »Ok, dann fahren wir nach Mygnia und schnappen uns die Typen, die uns abgefackelt haben. Wenn die da auch hin wollen, haben wir dort die besten Chancen, oder wir erwischen sie vor einem Portal. Zwei von denen erkenne ich mit Sicherheit an der Stimme. Vor allem der Dürre, der immer die »Phantom der Oper Maske« trug und diese quäkige, Nervensägestimme hatte.« »Woher kennst Du denn das Phantom der Oper?«, fragt Herbert. »Hat es bei dir auch Pizza bestellt?« »Oh my god Herbert«, sagt Theo nur. »Es genügt, wenn du »Majestät« zu mir sagst«, grinst Herbert.

Auf dem Parkplatz neben Theo und Herbert sitzt eine junge Frau in einem Geländewagen. Sie ist sehr schlank, hat kurze schwarze Haare und auch in der Kleidung überwiegt diese Farbe. Jeans, T-Shirt und dünne Lederjacke - alles schwarz. Nur einige Piercings an Ohr, Augenbraue und Nasenflügel glitzern wie Sterne im schwarzen Nachthimmel. Exakt so hat sich Herbert die junge Hackerin aus einem schwedischen Krimi vorgestellt.  
So sehen wohl alle Hackerinnen aus, vermutet Herbert, denn die junge Dame nebenan hat einen Laptop auf dem Schoß.  Er hatte die Feldbergnachbarin auf 19 oder maximal 20 geschätzt. Im Gespräch erfuhr er dann aber, dass Nina »schon« 28 ist. Sie versucht ihren Freund zu finden, der in einem Portal verschwunden ist. Eine andere Erklärung gibt es für sie nicht. Herbert fragt sie, ob sie die »Abreise« durch das Tor beobachtet hätte. »Nein«, sagt sie. »Ich war auf der Toilette im Feldberghof, als ich durch das Fenster dieses unheimliche Leuchten sah. Als ich zum Auto gerannt bin, war Gerry verschwunden. Er würde mich niemals im Stich lassen!  Auf keinen Fall zu Fuß«, fügt sie grinsend hinzu. »Seine heiß geliebte Allradmaschine hätte er mitgenommen«, sie schlägt dabei mit der Hand auf das Lenkrad, als ob sie dem Auto klarmachen wolle, dass sie nun das Sagen hat, bis das Herrchen Gerry wieder auftaucht.

Nina hat im Internet recherchiert, dass in Genf zurzeit sehr wenig los ist, was Portale angeht. Aber hier und da wird von Portalen, verschwundenen Menschen und außerirdischen Wesen berichtet. Meistens sind es keine offiziellen Meldungen, da die staatlichen Stellen scheinbar immer noch nicht wissen, wie sie damit öffentlich umgehen sollen. Bei den Meldungen in einschlägigen Internetforen fällt auf, dass immer, wenn ein außerirdisches Wesen auf der Erde erscheint, sehr bald an derselben Stelle wieder ein Portal entsteht. »Vermutlich, weil das Wesen doch lieber zurück nach Hause will. Dann müssen die sehr intelligent sein«, meint Herbert. »Nicht nur, weil sie per Portal reisen können, sondern weil ihnen ein Blick genügt, um die Erde als kaputt und unattraktiv einzustufen.« »Es gibt aber auch noch eine andere Möglichkeit«, ergänzt Nina. »Wenn diese Wesen sehr schüchtern und ängstlich sind, werden sie durch die Begegnung mit Menschen erschreckt und flüchten deshalb wieder. Auch wenn das Interview des 12-jährigen Kevin im Fernsehen abgewürgt wurde und Berichte anderer Mygnia-Besucher unterdrückt werden sollten, sickert doch immer mehr durch. Diese Wesen wurden als sehr scheu beschrieben.« »Seid ihr wegen dieser Ereignisse auf den Feldberg gefahren?«, fragt Herbert. »Nein, das war reiner Zufall. Vorher gab es hier noch kein Portal, jedenfalls keines, das von Menschen beobachtet wurde.
Gerry spielt als Funkamateur immer noch mit seinen alten Funkgeräten herum. Trotz Internet und den weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten freut er sich wie ein kleines Kind, wenn er auf Kurzwelle andere Kontinente erreicht, oder auf den höheren Ultrakurzwellen Entfernungen überbrückt, die eine Brieftaube in einer Stunde schaffen würde«, fügt Nina mit einem leicht genervten Unterton hinzu. »Er wollte es unbedingt schaffen, auf dem 70 cm Band über das Steinberg-Relais im Harz bis Hamburg zu funken. Dazu mussten wir hier auf den Feldberg rauf!«
»Nein«, ruft Herbert, »Ich fasse es nicht. Sag bloß, das ist Gerry DF1XA?« »Ja«, sagt Nina, »kennst Du ihn?« »Aber na klar! Wer kennt Gerry nicht! Der ist mindestens so bekannt wie Herbert DK7OH«. »Jetzt bin ich aber platt«, sagt Nina. »Du bist DK7OH? Den hatte ich mir viel jünger vorgestellt. Ja, so ist das aber jedes Mal, wenn man einen Menschen trifft, dessen Stimme man nur kennt - das Gesicht dazu passt nie!« »Wie meinst du das? Jünger? Ich bin gefühlte 31«, mault Herbert und grinst.
»Kann es sein, dass Gerry mit seinem Funkkrempel ein Portal ausgelöst hat?«, fragt Theo. Herbert und Nina schauen Theo verwundert an. Bisher war Theo sehr schweigsam und hatte sich für technische Dinge scheinbar wenig interessiert. Aber er überrascht die beiden achselzuckenden Mygnia-Portal-Strategen noch viel mehr mit einer weiteren Vermutung. »Wenn mit diesem Portal ein fremdes Wesen die Erde besucht hat, ist es vielleicht noch in der Nähe, hat sich versteckt, oder erkundet die Umgebung, oder ...« »Theo, du hast Recht«, Herbert ist sofort Feuer und Flamme. »DAS ist unsere Chance, mit dem Kerlchen nach Mygnia zu reisen!« Nina hält das auch für möglich. »Wenn wir sehr vorsichtig vorgehen, können wir mit dem Wesen vielleicht Kontakt aufnehmen.« »Du bestimmt«, meint Herbert. »Wenn ich ein Alien wäre, würde ich dich auch klasse finden und keine Angst vor dir haben.« »Ja, ja«, schmollt Nina. »Für Menschen bin ich uninteressant.« »Ach, so meine ich das doch gar nicht«, verteidigt Herbert sich. »Ich frage mich, ob ein schüchternes außerirdisches Wesen eher vor Theo oder vor dir Angst hätte. Ich weiß noch, wie Theo mich im dunklen Hinterhof geschnappt hat. Da habe ich beinahe einen Herzinfarkt bekommen.«
»Herbert, du wärst sicher das interessantere Studienobjekt oder der bessere Köder für Aliens«, schmunzelt Theo. »So ein verrücktes Lebewesen haben die noch in keiner Galaxie getroffen.
Nina stoppt das Geplänkel. »Lasst uns lieber überlegen, wie wir vorgehen, um das Wesen zu suchen, es nicht zu verschrecken und wie wir es dazu bringen, ein Portal zu erzeugen.«

Theo und Herbert zucken mächtig zusammen. Ein alter VW-Bus erklimmt die letzte Steigung und hält vor dem Feldberghof. Den Klang dieses Motors kennen sie gut! Herbert wird heiß und kalt. Einerseits will er die Entführung und »Folterung« nicht einfach vergessen, andererseits hat er keine Idee, wie man solche Gangster überführen kann. Hieb- und stichfeste Beweise haben Theo und Herbert eigentlich nicht. »Hey Theo« »Ja, ich sehe«, flüstert Theo.
Die beiden Typen, die den VW-Bus verlassen und in das Gasthaus gehen, könnten durchaus zu der Bande gehören, die aus mindesten 4 Ganoven besteht. Herbert meint, einen der beiden Dunkelmänner an seinem schlaksigen Gang zu erkennen. Das ist auch der, der diese markante »Martin Semmelrogge-Stimme« hat. Die Gesichter haben sie leider nie gesehen, entweder waren die Gangster maskiert, oder Herbert und Theo hatten »Sichtschutz« in Form von Jutetüten.
Herbert und Theo schmieden immer noch flüsternd Pläne, wie sie sich die beiden schnappen können, ohne Gewalt anzuwenden oder strafbare Selbstjustiz zu praktizieren. Herbert möchte  erst einmal den VW-Bus lahmlegen, um das weitere Wirken der Verbrecher etwas auszubremsen. »Bremsen!«, frohlockt Herbert. »Das wäre es doch, wenn die bergab plötzlich nicht mehr funktionieren!« »Heeeeerbert! Das ist Mord oder wenigstens Totschlag, wenn die dabei draufgehen!«, entgegnet Theo. »Ja, ich weiß.  Aber uns hätten die beinahe totgeschlagen oder ermordet und sollen einfach so davonkommen?«, jammert Herbert. »Oder wir zünden ihnen wenigstens den Bus an. Dann sind wir zwar noch nicht quitt, aber ...« »Und wenn da wieder ein entführtes Opfer drin liegt, grillst du den gleich mit - oder wie?«, unterbricht Theo ihn.
»Wenn es euch nicht um blanke Rache geht, sondern darum, den Typen das Handwerk zu legen, genügt es vielleicht schon, die Polizei auf sie aufmerksam zu machen«, mischt sich Nina ein. »Wenn wir Glück haben, findet die Polizei im Bus genug Hinweise auf deren krumme Geschäfte und nagelt sie fest. Zur Not kann man ja auch noch ein paar Hinweise »ergänzen«, schlägt Nina grinsend vor. »Theo, vielleicht hast du etwas, was die nachweislich nur in deiner Pizzeria gestohlen haben können. Das wäre der erste Schritt, die Brandstifter zu überführen.«
Theo strahlt. »Nina, du bist klasse! Ich habe hier in meinem Lieferwagen einige Dinge, die eindeutig auf die Pizzeria hinweisen. Da können wir der Polizei mit einigen Indizien prima die Arbeit erleichtern.
Aber bevor sie den detaillierten Plan aushecken können, hören sie Geschrei und Schüsse aus der Gaststätte.

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Es ist dämmerig. Man kann nicht sehr viel erkennen. Nachdem das grelle Licht erloschen ist, müssen sich Gerrys Augen erst an die schummrigen Lichtverhältnisse gewöhnen. Ihm ist sofort klar, dass er sich auf Mygnia befindet. Nicht, weil hier ein Ortsschild mit der Inschrift »Mygnia« steht, auch nicht weil ein Begrüßungskomitee ein Willkommensbanner hoch hält. Nein, er kann eins und eins zusammenzählen. Berichte über Portale, Mygnia, Lichterscheinungen und dann dieses unbeschreibliche Licht, das Gefühl im freien Fall ins Nichts zu fallen. Das alles kann selbst ein Mensch ohne Teleportationserfahrungen erkennen.
Es sei denn, es gibt noch Portale zu anderen Parallelwelten und er hat eine neue Route  erwischt. Gerry schreit laut »Scheibenkleister« - oder so etwas Ähnliches. Schließlich hat er eine gute Erziehung, Schule und Ausbildung genossen. Aber ist es nicht egal, ob er auf Mygnia oder auf dem Mars ist? Nein, der Mars ist es bestimmt nicht, der ist rötlicher. Hier ist alles grau, silbergrau. Der Sand fühlt sich weicher an als Vogelsand. Gerry kennt sich mit Vogelsand aus. Er hat jahrelang einen Wellensittich gehabt und später einen Beo. Mit dem konnte er sich prima unterhalten. Naja, wir wissen, was damit gemeint ist. Das mit dem Sand wäre auch nicht ganz so wichtig, wenn nicht die Tatsache verunsichern würde, dass es nichts gibt als Sand, so weit das Auge reicht.  Nur Sand! Nicht ganz eben, wie der frisch geschüttelte Boden eines Vogelkäfigs, sondern wellig, teilweise hügelig.
Inzwischen kann Gerry alles klar und deutlich erkennen, trotz der etwas gedämpften  Lichtverhältnisse. Es erscheint ihm eher wie eine Abenddämmerung als ein Morgengrauen.
Es graut ihm aber trotzdem, und zwar gewaltig. So weit er schauen kann - schätzungsweise 10 oder mehr Kilometer - nur Sand.
Gerry geht ein paar Schritte. STOP! Wenn ich diesen Platz verlasse, verpasse ich vielleicht das nächste Portal. »Das nächste Portal«, lacht ihn eine gehässige innere Stimme aus. »Du glaubst doch nicht wirklich, du bist hier auf einem Bahnsteig und musst nur auf den nächsten Zug oder die S-Bahn warten. Blödmann!«
Gerry geht die paar Schritte zurück. Obwohl der »Vogelsand« die Löcher jedes Fußtrittes wieder etwas »zufließen« lässt, kann man die Fußspuren noch ganz gut erkennen.
Gerry hat eine grandiose Idee. Mit den Händen schaufelt er so viel Sand wie möglich auf eine Stelle, als ob er eine Sandburg bauen wolle.
»Ich sitze hier auf einem fremden, total öden Planeten und baue mir eine Sandburg - er lacht. Er lacht laut und schrill. Das Lachen bleibt ihm aber schnell im Halse stecken. Lieber noch einmal laut »Scheibenkleister« schreien. Hmmm, das befreit auch nicht richtig. »Hallo! - Hallo Portal - Hallo Erde! Bitte kommen!«
Er holt sein Handy aus der Tasche und schaut auf das dunkle Display. Er hat auch nicht erwartet, dass das Handy funktioniert, aber in so einer Situation ist jeder Strohhalm ein Licht am Horizont. Ja, Horizont gibt es hier genug. 360 Grad nackter Horizont.
»Wenn das die Wüste in der Parallelwelt ist, ist das hoffentlich nicht die Sahara, sondern die Wüste von Nevada. Dann ist hier ja irgendwo ein Parallel-Las-Vegas. Aber in welcher Richtung?
Gerry war zwar gerne mal alleine, aber doch nicht SO alleine! Bei 3 Geschwistern war zuhause immer eine Menge Trubel. Als der älteste Sohn durfte er schon mit 13 oder 14 erzieherische und betreuende Tätigkeiten für die kleineren Geschwister übernehmen. Die Eltern haben eine Buchhandlung. Der Vater ist ganztags im Geschäft. Die Mutter muss aber oft aushelfen, wenn Einkauf, Buchhaltung und anderen Nebentätigkeiten den Vater auslasten. So hat Gerry im Haushalt geholfen, die Kleinen bei den Schularbeiten unterstützt und viele andere Dinge erledigt, die seinen jugendlichen Freiraum arg beschnitten haben.
Als diese Zeit endlich vorüber war, er schon eine eigene Wohnung hatte, die er sich mit seiner Freundin teilte, kam es fast noch dicker. Diese Freundin ließ sich von vorne bis hinten bedienen, wurde immer »kränklicher« und konnte deshalb bald gar nichts mehr selbst erledigen. Allerdings konnte sie noch prima ihr Bier selbst trinken und auch beim Schnaps brauchte sie keine Hilfe, außer bei Beschaffung und Leergutentsorgung.
Das war eine schlimme Zeit! Gerry will darüber gar nicht mehr nachdenken, aber ab und zu fahren ihm diese Erinnerungen wie ein glühendes Eisen durch das Hirn und er versucht, es in eiskaltem Wasser abzuschrecken - diese Gedanken zu verdrängen, denn diese »Beziehung« verlief nicht nur schlimm - sie endete auch schlimm!

Dann hat er irgendwann Nina kennengelernt. Eine beachtenswerte Frau! Nicht, weil sie sich mit PC, Internet und allen damit verbundenen Tricks besser auskennt als Gerry und alle »coolen Jungs«, die er kennt, sondern weil Nina zielstrebig, hilfsbereit, immer ehrlich  und klug ist. Sie nörgelt nicht an den Dingen herum, die man nicht ändern kann und packt die Dinge dort an, wo man sie bewegen kann. Außerdem ist sie die bezaubernste Frau, die ihm je begegnet ist. Sie ist keine sogenannte »Schönheit« wie manche retuschierten Schauspielerinnen, aber ausgesprochen attraktiv und hat das besondere Etwas! Gerry ist das erste Mal in seinem Leben sicher, wahre Liebe zu  empfinden. Er kann sich nicht vorstellen, dass die Empfindungen für irgendeinen anderen Menschen stärker sein könnten als für Nina. Er ist glücklich!
Und nun DAS!
Nun sitzt er hier und ... Gerry kann es nicht unterdrücken, dass ihm Tränen herunter kullern. Er hat plötzlich das Gefühl, bei lebendigem Leibe tot zu sein. Er dachte immer, wenn man tot ist, schläft man traumlos, ohne wieder aufzuwachen. Was ist, wenn das gar nicht stimmt? Was ist, wenn das hier der Tod ist? Er ist doch erst 30 Jahre alt. Das KANN doch einfach nicht sein! Und wenn, wie ist er dann gestorben? Er versucht, sich zu erinnern. Er ist über den Feldberg gegangen und hat eine Stelle gesucht, wo er den kleinen Schiebemast mit der HB9CV-Antenne aufbauen kann. Nein, er ist keinen Abhang hinuntergestürzt! Er hat keine Gewehrkugel oder einen Armbrustpfeil in die Brust oder sonst einen Körperteil bekommen. Nein, da war einfach nur dieses grelle, bunte Licht. Oder sieht so ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall aus? Das wäre ja ein komischer Zufall.
Aber es sind doch Menschen verschwunden - in diesen Lichtportalen. Nina hat ihm doch ausführlich alles erzählt, was sie über Mygnia und Portale im Internet erfahren hat. Und diese Menschen lagen nicht tot auf der Erde - sie waren komplett verschwunden, nachdem das Portal sie verschluckt hat. Also KANN er doch auch nur von einem Portal verschluckt worden sein. Sehr beruhigend! Er lacht wieder - aber sehr kläglich. Man hat erst von ganz wenigen Menschen gehört, die wieder zur Erde zurückgekommen sind.

Gerry versucht, sich zu Herzen zu nehmen, was er von Nina gelernt hat. Nicht jammern! Überlegen und sich entscheiden! Nach der Entscheidung handeln! Unverzüglich! Nichts auf die lange Bank schieben!

Er schaut sich noch einmal um. Es hat sich in der Zwischenzeit nichts verändert. Doch, es ist etwas dunkler geworden. Es scheint bald Nacht zu werden! Aber es ist nicht kalt - wenigstens das. Gerry beschließt, so gut es geht, diesen Ort zu markieren an dem er »gelandet« ist. Damit er bei der Untersuchung der Umgebung immer hier her zurückkehren kann, um auf ein Portal zu warten. Allerdings schießt ihm der nächste unangenehme Gedanke durch den Kopf, und zwar, wie lange er ohne Wasser durchhalten kann. Er will aber nicht tatenlos hier verdorren. Er will wenigsten bis zur nächsten, wenn auch kleinen Anhöhe laufen, um hoffentlich in der Ferne etwas anderes als Sand zu sehen. Die »Sandburg« wird nicht sehr hoch, gerade mal einen Meter. Er legt sein nutzloses Handy oben drauf. Er überlegt es sich anders und steckt es so in den Sand, dass ein Teil des spiegelnden Displays in die Richtung zeigt, in die er gehen will. Die Idee findet er prima und ist ein wenig stolz auf sich. Schade, dass ihn hier niemand beobachtet, der ihn bewundern kann. Dann geht er los. Wer schon durch Dünen gelaufen ist, weiß, wie schwer es ist, sich im Sand fortzubewegen und kann sich Gerrys Tempo vorstellen.


Episode - Herbert findet endlich ein Portal


(Fortsetzung folgt)